Sempervivum soculense

Die Pizzocolo-Hauswurz (Sempervivum soculense)



Das online-Magazin Acta Succulenta 1(2) 2013 machte uns neugierig. Davide Donati und Gérard Dumont beschrieben dort eine neue Hauswurzart vom Monte Pizzocolo. „Sempervivum soculense sp. nov. a long time unknown houseleek from the south-western Garda Prealps” überschrieben sie ihre Arbeit.

Man liest den Text und staunt. Sollte es tatsächlich möglich sein, daß es noch im 21. Jahrhundert in einem der botanisch am allerbesten erforschten Gebiete der Welt neue Arten zu entdecken gibt? In dem erst 2017 aufgelegten Werk „Endemische Alpenpflanzen von Herbert Sauerbier & Wolfgang Langer“ findet man jedenfalls keinen Hinweis auf Sempervivum soculense. Aber die Beweisführung in der Publikation ist zwingend und am besten, man schaut sich das aus der Nähe, also an Ort und Stelle einmal genauer an. Und so nutzten wir die nächste sich bietende Reisegelegenheit, um den Monte Pizzocolo (1581m) zu besteigen.

Der Berg ist gewissermaßen der Star unter den Gipfeln auf der Westseite des Sees. Kein anderer Berg hat diese Ausstrahlung. „Naso di Napoleon“ wird er wegen seines markanten Profils genannt. Vor allem vom Ostufer aus oder während der Überfahrt mit der Fähre von Torri del Benaco nach Toscolano-Maderno erlebt und erliegt man seiner „magnetischen“ Wirkung.

Blick vom Monte Pizzocolo auf Toscolano-Maderno und den südlichen Gardasee

Es gibt viele Zugänge zum Gipfel. Wir entschieden uns für den Aufstieg aus dem Val di Sul. Der Weg ist zunächst etwas beschwerlich, aber ist erst einmal der Passo Spino (1160m) erreicht, liegt der steilste Streckenabschnitt hinter uns und das Ziel schon bald vor unseren Augen. Allerdings: wenn man aus dem Halbdunkel des Waldes herausgetreten ist, wird es sich das Auge des Pflanzenfreundes nicht mehr so oft erlauben, über den See oder zum Gipfel zu blicken, denn in angespannter Erwartung muß schließlich jeder Quadratmeter genauestens untersucht werden.

Wir wandern auf leicht begehbaren geschotterten Wegen. Das Material für den Wegebau wurde direkt aus dem Berg herausgebrochen und ist in der Zeit des Unteren Jura abgelagert worden. Kurz: der Monte Pizzocolo besteht aus Kalkgestein mit eingelagerten Dolomitlinsen. Ähnlich wie der Monte Baldo dürfte auch der um knapp 500m niedrigere Monte Pizzocolo während der Eiszeit eisfrei geblieben sein.

Und dann stehen wir endlich vor ihr...! Nein, wir jubeln nicht, sondern sind zunächst etwas unsicher. Drei Rosetten, die sich aus einer Kalksteinspalte drängen, gleichen auf den ersten Blick den vom Westufer des Sees hinlänglich gut bekannten Sempervivum tectorum.

Nichts Auffälliges, vielleicht etwas pfeilförmiger zulaufende Blätter, deren Farbe als ein einfarbiges stumpfes Grün mit einem leicht ins Graue spielenden Flaum bezeichnet werden könnte, wäre bestenfalls als Unterscheidung zu der, vor allem am Monte Baldo häufigen, Tectorum-Population hervorzuheben.

Aber die Veröffentlichung der beiden Autoren Davide Donati und Gérard Dumont bringt Klarheit. Es gibt am Monte Pizzocolo ausschließlich die diploide Sempervivum soculense mit einer Chromosomenzahl von 2n=38.

Die Population am Monte Pizzocolo ist relativ klein aber offenbar groß genug, um auf Dauer zu überleben

Die Zellen eines Organismus‘, der sich sexuell fortpflanzt, besitzen zwei Chromosomensätze und werden damit als diploid (2n) bezeichnet. Eine Zelle enthält je einen Chromosomensatz mit den mütterlichen und einen mit den väterlichen Erbanlagen.

Sempervivum tectorum mit einer Chromosomenzahl von 2n=72 ist dagegen tetraploid (auch polyploid!). Diese Unterscheidung kann natürlich nicht in der Natur, sondern nur im Labor belegt werden.

Vermischungen sind ohnehin eher unwahrscheinlich, denn der Westen des Sees ist sehr arm an Semperviven. Die dem Monte Pizzocolo am nächsten gelegene Population, wächst am Monte Maddalena in der Nähe von Brescia, also etwa 16 km weit entfernt.

Die Gattung Sempervivum ist sehr variabel. Die Chromsomenzahl reicht von 2n=16 bis 2n=108

Allerdings konnten wir eine Beobachtung der beiden Autoren nicht bestätigen. Sie beschreiben die Art als sehr blühfreudig. Nun sind Semperviven-Arten monocarp, d.h. eine blühende Rosette stirbt nach der Blüte ab. Wir haben aber eine ganze Reihe sehr großer, alter Rosetten gefunden, die offenbar schon viele Jahre eben nicht geblüht haben und auch eine zweite Suche im September nach Fruchtständen blieb erfolglos. Dennoch, bei der Suche nach der neuen Art Sempervivum soculense begleitete uns ein guter unbekannter Geist – der Pioniergeist, der in unseren Zeiten, in unserer Region und in diesem Metier nur noch selten über uns schwebt und webt.