Piz Lagalb
Nein, es war keinesfalls geplant, daß wir zum Abschluß unserer kurzen Reise den Piz Lagalb in der Bernina-Region bestiegen. Vielmehr war es den Umständen geschuldet. Aus dem Vinschgau vertrieb uns ein überaus böiger Wind und weil das Stilfser Joch wegen Schneeverwehungen gesperrt war, wählten wir den Weg durch das Val Müstair , den Ofenpass und bezogen im italienischen Livigno Quartier für eine Nacht. Der Corona-Schock saß tief in dem kleinen Ort, der besonders für Wintertouristen eine große Anziehungskraft hat; Bergamo ist eben nicht so weit entfernt...
Am nächsten Morgen botanisierten wir an den Gleit- und Prallhängen des Fiume Spöl südlich von Livigno. Für Semperviven-Freunde eine durchaus dankbare Beschäftigung.
Doch, weg vom Wasser, hinauf in die Gipfelregionen der Livigno-Bergkette. „Den Weisen erfreut das Wasser, den Tugendhaften erfreuen die Berge.“ So sprach K‘ung-tse, der bei uns Konfuzius heißt und dem tugendhaften Gärtner und Pflanzenliebhaber haben die Berge nun einmal ungleich mehr zu bieten als das Wasser.
Zunächst steht aber die Mittagspause an. Auf dem Parkplatz der Lagalb-Seilbahn packen wir unsere Brotzeit aus und stärken uns für den Aufstieg; immerhin liegen etwa 800 Höhenmeter vor uns. Das wußten wir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, denn ursprünglich wollten wir den Piz Lagalb umrunden, unsere müden Füße im Lej Minor kühlen und im Val Minor vielleicht sogar dem Alpenapollo begegnen.
Dummerweise verpaßten wir den Abzweig. Aber wie es so oft ist, hatte dieses Mißgeschick auch positive Seiten.
Wir fühlten uns an die Zeile: „Warm atmet der Fels: schlief wohl zu Mittag das Glück auf ihm seinen Mittagsschaf“ aus Nietzsches Dionysos Dithyramben erinnert, denn auf den Felsen entdeckten wir Pflanzen, die wir so noch nie gesehen hatten. Einschränkung: Natürlich hatten wir sie schon oft gesehen, aber eben noch nie so.
Noch ehe wir so recht am Berg angekommen waren, entdeckten wir Sempervivum tectorum ssp. alpinum und dann ging es wirklich Schlag auf Schlag. Die Spinnweb Hauswurz Sempervivum arachnoideum mit tiefdunkelroten Blüten, die Dach Hauswurz Sempervivum tectorum und Sempervivum x barbulatum – eine Naturhybride aus Sempervivum arachnoideum und Sempervivum montanum – und natürlich die allgegenwärtige Sempervivum montanum leuchteten aus den grauen Steinpartien heraus und reizten den Fotografen zum x-ten Versuch, endlich die allerbeste Aufnahme der Pflanze zustande zu bringen.
Beeindruckt hat uns auch das Stern- oder Sterndolden Hasenohr Bubleurum stellatum, das Anfang August auf etwa 2500 m in voller Blüte stand. Die gelben, durchscheinenden Blüten gegen den blauen Berghimmel zu bewundern, ist ein Erlebnis für sich.
Und dann waren wir im Reich der Steinbreche. Wir hatte den Eindruck, daß der Frühling, hier auf knapp 3000 m, erst jetzt so richtig in Fahrt gekommen war. In den vernäßten Bereichen blühte üppig der Fetthennen Steinbrech Saxifraga aizoides, die Futterpflanze der Alpenapollo-Räupchen.
Auch der Sternblütige Steinbrech Saxifraga stellaris, der in Graubünden weit verbreitet ist, war zu entdecken und auch der seltenere, kleine Polster bildende Furchen Steinbrech Saxifraga exarata war nicht zu übersehen.
Saxifraga bryoides der Moos-Steinbrech, teilweise große, kugelige Polster bildend, und vor allem der Trauben Steinbrech Saxifraga paniculata in unterschiedlichen Formen und Stängelfarben waren reichlich anzutreffen.
Obwohl wir aus vielen Alpenregionen Massenbestände des Trauben Steinbrechs sehr gut kennen, war der Habitus dieser Exemplare doch sehr überraschend. Teilweise waren die Pflanzen sogar bis zu 30cm hoch. Die traubigen Blüten in weis oder zartgelb verteilten sich am Ende von grünen oder braunen Stängeln. Auch diese Farbvielfalt auf engstem Raum hatten wir bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen.
Weiter in Richtung Gipfelregion wurde unsere Aufmerksamkeit dann doch eher von dem großartigen Fernblick hinüber in den „Festsaal der Alpen“ mit dem Piz Bernina – dem einzigen 4000er der Ostalpen - und hinunter in Puschlav gefesselt.
Übrigens: Der tiefere Grund dafür, daß wir den Abzweig verpaßten, lag in dem Umstand begründet, daß wir ein Jahr vorher auf einer größeren Fläche mit blühendem Himmelsherold Eritrichum nanum vorbeigekommen waren und erst darauf folgend den Abzweig nehmen mußten. Nun, auch das kann passieren: Wir hatten einfach nicht im Blick, daß der Himmelsherold schon längst verblüht und damit kaum noch zu erkennen war, denn im abgeblühten Zustand ist die Pflanze, die bis zu 30 Jahre alt werden kann, eher unscheinbar. So strebten wir immer weiter in Richtung Gipfel und verpaßten unsere „Ausfahrt“.
Müde, aber doch sehr zufrieden kehrten wir gegen 18:30Uhr zu unserem Ausgangspunkt zurück. Nun war nur noch die Frage nach dem Quartier zu klären; in der Hochsaison und ohne Reservierung nicht so ganz einfach. Doch Sils Maria nahm uns glücklicherweise auf. Am nächsten Morgen besuchten wir noch die Chasté, eine Landzunge, die wie ein Zeigefinger von Osten her in den Silser See ragt und traten gegen Mittag via Julier Paß die Rückreise nach Franken an.